Frau Westermann, was sind die Vorteile einer spielzeugfreien Zeit in der Kita?
Heike Westermann: Meiner Ansicht nach offenbart eine spielzeugfreie Zeit viele Chancen und Möglichkeiten für alle Beteiligten. Die Karten werden sozusagen einmal neu gemischt, so dass sich zum Beispiel Kinder ganz anders zeigen können als zuvor. Oftmals entstehen auch neue Kinderkonstellationen in den Gruppen, die es ohne das Projekt vermutlich nicht gegeben hätte. Es findet viel mehr Partizipation statt, Strukturen und Regeln werden neu überdacht, die Sprache wird gefördert. Die Bedeutung des Spiels wird ersichtlich, weil die Angebote nicht von Erwachsenen vorgegeben, sondern von Kindern entwickelt werden. Das ist ein sehr partizipativer und kreativer Prozess, der oft auch noch nach dem Projekt nachwirkt.
Wie wirkt sich ein solches Projekt auf die Arbeit der Fachkräfte aus?
Heike Westermann: Das Team macht sich gemeinsam auf den Weg, probiert etwas Neues aus, meistert dabei Herausforderungen und entwickelt neue Ideen. Die Fachkräfte gehen während der spielzeugfreien Zeit vermehrt in die Beobachtung und beschäftigen sich mit der Frage, wie sie Kindern Impulse geben können, ohne Vorgaben zu machen. Sie nehmen also eine neue Rolle ein – das wirkt sich auch auf die Zusammenarbeit im Team aus.
Was sind die ersten Schritte von der Idee bis zur Umsetzung einer spielzeugfreien Zeit?
Heike Westermann: Der erste Schritt besteht darin, dass ein Team sich im Vorfeld intensiv mit dem Projekt „Spielzeugfreie Zeit“ auseinandersetzt. Ziel ist es, zunächst konkrete Informationen zu erhalten und eine gemeinsame Haltung zum Projekt zu entwickeln.
An dieser Stelle setzen Sie wahrscheinlich auch mit Ihrer Fortbildung an?
Heike Westermann: Genau. Je nachdem, ob eine Kita das Konzept nur kennenlernen oder tatsächlich umsetzen will, konzipiere ich die Fortbildung nach Bedarf. Dabei beschäftigen sich die Teams mit Fragen wie: Was bedeutet „spielzeugfrei“ konkret? Welche Kompetenzen werden dadurch gestärkt? Wo würde das Spielzeug hinkommen? Gibt es Vorbehalte oder Ängste im Team – und wie sieht ein möglicher Ablauf aus?
Wenn sich eine Kita für die spielzeugfreie Zeit entscheidet – wie geht es dann weiter?
Heike Westermann: Es sind Ziele, Abläufe und Absprachen zu erarbeiten. Es hat sich bewährt, eine Timeline zu erstellen, mit konkreten Daten, wer wann informiert und ins Boot geholt wird. Es ist wichtig, zunächst den Träger zu informieren und anschließend auch die Eltern, Familien und Kinder.
Wie sollte der Träger in das Projekt eingebunden werden?
Heike Westermann: Ich empfehle immer, den Träger im Vorfeld zu informieren und sich abzustimmen. So kann dieser bei Nachfragen von Eltern oder Familien sicher agieren und wird auch bei möglichen Beschwerden nicht unvorbereitet „erwischt“. Manche Kitas laden Trägervertreter:innen zu Eltern-Informationsveranstaltungen ein, sodass eine Transparenz gegeben ist. Bei der Organisation und Finanzierung von Fortbildungen kann der Träger ebenfalls eine Unterstützung sein. Nicht zuletzt können Träger auch bei der Suche nach einem Lagerort für die vielen Kartons mit Spielmaterialien behilflich sein. Nicht jede Kita verfügt über freie Keller- oder Abstellräume.
Wie lassen sich auch die Eltern ins Boot holen?
Heike Westermann: Das ist in Kitas sehr unterschiedlich und hängt von der gelebten Praxis der Erziehungspartnerschaft ab. Ich würde jeder Kita dringend raten, sich für diesen Schritt viel Zeit zu nehmen und frühzeitig damit anzufangen. Eltern und Familien müssen die Möglichkeit haben, sich zu informieren, Fragen zu stellen und mögliche Sorgen mitzuteilen.
Kann man auch die Kinder bei den Vorbereitungen einbeziehen?
Heike Westermann: Um sie mit dem Projekt vertraut zu machen, eignen sich Morgenkreise, Kinderkonferenzen oder auch Gespräche im Freispiel. Es gibt gute Bilderbücher, wie zum Beispiel „Der blaue Stuhl“ oder „Was mache ich mit einer Idee“, die Kinder gut auf die Zeit ohne Spielzeug vorbereiten. Auch Rollenspiele der Fachkräfte zum Thema Langeweile oder der Besuch einer Handpuppe, die von einer spielzeugfreien Zeit in ihrer Kita erzählt, machen das Projekt konkreter für die Kinder. Ja, und dann geht das Projekt mit dem Einpacken und Wegbringen der Spielzeuge für sie so richtig los.
Eine spielzeugfreie Zeit bedeutet für viele Kitas eine große Umstellung. Was erleichtert das „Hereinwachsen“ in ein solches Projekt?
Heike Westermann: Ist eine Kita größer, kann die spielzeugfreie Zeit gegebenenfalls nur in einer Abteilung oder Etage stattfinden, je nachdem wie viele Fachkräfte sich auf das Projekt einlassen möchten. So lassen sich erste Erfahrungen sammeln. Zudem sollten Leitungsfachkräfte besonders zu Beginn des Projektes mehr Besprechungszeiten im Team einplanen. Spielzeugfreie Zeiten sind ungewohnt, daher braucht es Raum, um eigene Gefühle oder Unsicherheiten auszusprechen und sich kollegial zu beraten. Wichtig ist auch, die „Zaubermomente“ der spielzeugfreien Zeit zu sammeln und Erfolge miteinander zu feiern.
Welche Rolle nimmt die pädagogische Fachkraft während der spielzeugfreien Zeit ein?
Heike Westermann: In der spielzeugfreien Zeit besteht die Herausforderung darin, sich als Fachkraft sehr zurückzuhalten. Die eigene Rolle besteht darin, einzelne Kinder und das Gruppengeschehen zu beobachten. Die Fachkräfte geben nur Impulse, wenn sie danach gefragt werden oder wenn einzelne Kinder es für ihr Wohl benötigen. Das ist für viele Erwachsene gar nicht so einfach.
Warum fällt ihnen diese Zurückhaltung so schwer?
Heike Westermann: Wenn Erwachsene beobachten, wie sich Kinder bei einer Sache schwertun, ist es oft ein erster Impuls, eine Lösung für ihr Problem anzubieten. Nehmen wir mal an, die Kinder würden es nicht schaffen, selbst einen „Vorhang“ für ein Theaterstück zu befestigen – dann sollte eine Fachkraft ihnen nicht gleich dabei helfen, nur um Frust zu vermeiden. Denn damit würde sie den Kindern die Möglichkeit nehmen, selbst Lösungsideen zu entwickeln, Materialien einzufordern oder sich bei anderen Kindern Hilfe zu suchen.
Welche Bedeutung haben bereits etablierte Rituale und Regeln während dieser besonderen Zeit?
Heike Westermann: Die Zeit ohne Spielzeug verläuft nicht ohne Regeln, jedoch werden viele neu hinterfragt. Auch der Tagesablauf ist – je nach Gestaltung der spielzeugfreien Phase – oftmals weniger vorhersehbar. Manche Kitas, die sonst ein festes Gruppenfrühstück anbieten, ermöglichen es Kindern dann, Ort und Zeit der Mahlzeit frei zu wählen. Da gibt es schon mal ein Frühstück in der Höhle unter dem Tisch. So eine Veränderung kann manche Fachkräfte verunsichern oder herausfordern.
Inwiefern ist das eine Herausforderung für Fachkräfte?
Heike Westermann: Manchmal kommt es zu Zweifeln, sie fühlen sich in ihrer neuen Rolle und mit den Veränderungen unwohl. Sie brauchen gegebenenfalls Unterstützung durch das restliche Team. Wenn es im Verlauf des Projekts massive Personalengpässe oder andere dauerhafte Belastungen gibt, erlebt das Team die spielzeugfreie Zeit bisweilen als sehr große Herausforderung.
Wie finden Kinder die Idee einer spielzeugfreien Zeit?
Heike Westermann: Kinder sind üblicherweise von Beginn an sehr offen für das Projekt. Sie freuen sich auf die Veränderung und finden es spannend, alle Materialien in große Kartons zu packen und dann in den Keller oder in den Abstellraum zu transportieren. Manchmal versuchen sie auch, mit den Fachkräften zu verhandeln, dass bestimmte Spielmaterialen wie Bausteine oder Puppen „bleiben dürfen“.
Und wenn der Tag ohne Spielzeug dann tatsächlich gekommen ist?
Heike Westermann: Dann reagieren Kinder sehr unterschiedlich. Manche ziehen sich erst einmal etwas zurück und beobachten, was in der Gruppe oder in den Räumen so passiert. Andere beginnen gleich, Stühle und Tische umzuräumen. Und dann gibt es fast immer auch Kinder, die erstmal ausprobieren, welche Regeln noch bestehen und was jetzt – in der veränderten Zeit – anders möglich ist. Sie rennen, toben und ringen um die wenig vorhandenen Materialien.
Das klingt aber nach mehr Unruhe als sonst …
Heike Westermann: Oftmals ist es in den ersten Tagen lauter und unruhiger als zuvor. Nach und nach entwickeln die Kinder dann neue Spielideen. Sie bringen sich von zu Hause Materialien mit, die sie für ihr Vorhaben benötigen. Außerdem entstehen neue Konstellationen in den Spielgemeinschaften.
Wie verhalten sich die Kinder im Verlauf der Zeit ohne Spielzeug?
Heike Westermann: Manche genießen den Alltag mit wenig von Erwachsenen vorgegebenen Strukturen sehr, sie blühen auf und werden sehr kreativ und ideenreich. Es gibt aber auch Kinder, die sich langweilen und von sich aus wenig Eigeninitiative zeigen. Sie kommen erst nach einer längeren Zeit – oder in Ausnahmefällen auch gar nicht – richtig im Projekt an. Diese Kinder benötigen auf jeden Fall viel Unterstützung. Deren Eltern und Familien dann oftmals auch.
Welche Rückmeldungen erhalten Sie von Eltern und Familien?
Heike Westermann: Wie man sich denken kann, gibt es nicht DIE Reaktion der Eltern oder Sorgeberechtigten. Die Rückmeldungen sind sehr vielfältig: Immer häufiger berichten Familienmitglieder, dass sie als Kind selbst schon eine spielzeugfreie Zeit in der Kita erlebt haben. Was hilfreich ist, denn sie können sehr anschaulich davon berichten. Viele freuen sich auch mit Blick auf Nachhaltigkeit, Konsum und Suchtprävention, dass ihren Kindern ein solches Projekt ermöglicht wird.
Das klingt nach überwiegend positiven Reaktionen – die spielzeugfreie Zeit weckt bei manchen Eltern und Familien sicherlich auch Befürchtungen?
Heike Westermann: Manche machen sich natürlich auch Sorgen über mögliche Auswirkungen des Projekts. Sie fragen sich, ob ihr Kind dann noch genauso gern in den Kindergarten gehen möchte, ob es möglicherweise traurig sein oder sich langweilen wird. Sie fragen sich, wie es sich verhalten wird, wenn es nachmittags von der Kita abgeholt wird. Es ist wichtig, diese Fragen präsent zu haben und regelmäßig mit besorgten Eltern und Familien ins Gespräch zu gehen. Insbesondere Angehörige von Kindern, die vor dem Übergang in die Schule stehen, sind häufig verunsichert. Sie befürchten, dass ihren Kindern durch die spielzeugfreie Zeit wichtige Inhalte zur Vorbereitung auf die Schule verloren gehen.
Wie können Kita-Leitung und pädagogische Fachkräfte solchen Bedenken entgegenwirken?
Heike Westermann: Sie können transparent machen, wie das Projekt eine Vielfalt an Kompetenzen stärkt, die auch für den Schulstart sehr hilfreich sind. Ratsam ist auch, schon im Vorfeld der spielzeugfreien Zeit klarzumachen, dass sich das Projekt nicht gegen herkömmliches Spielzeug richtet. Denn dieses Gefühl entstehe oft bei Eltern und Familien, berichten Kursteilnehmer:innen. Manchmal lassen sich die Vorbehalte trotz einer sehr ausführlichen Projektvorstellung nicht vollständig ausräumen, einige Angehörige bezweifeln generell den Sinn des Projekts. Hier sind dann Geduld und eine gute Begleitung seitens der Fachkräfte gefragt.
Klingt nach einer herausfordernden Zeit für die Fachkräfte …
Heike Westermann: Herausforderungen gibt es bei der spielzeugfreien Zeit fast immer, da will ich gar kein falsches Bild aufkommen lassen. Das Projekt verläuft selten ohne Stolpersteine – schließlich stellt es, wenn auch zeitlich befristet, eine gravierende Veränderung für alle dar. Es kann auch unter den Kindern zu mehr Konflikten kommen, da um Materialien oder Ideen gerungen wird oder weil der Umgang mit den eigenen Gefühlen noch nicht so gut gelingt. Das wird von den Fachkräften oftmals als Belastung erlebt.
Wie können Sie ihnen in einer solchen Phase Mut machen?
Heike Westermann: Es ist ein Ziel des Projektes, die Kinder im eigenständigen Lösen von Konflikten zu stärken. Außerdem hat es schon viele spannende und wichtige Diskussionen in den Teams oder auch auf Elterninformationsveranstaltungen hervorgerufen: Da ging es um die Bedeutung kindlichen Spiels, dem Bild vom Kind, die Frage, was Kinder in der heutigen Welt für Fähigkeiten benötigen, um Mitbestimmung und Entscheidungsmöglichkeiten von Kindern oder auch um das Thema Nachhaltigkeit in der Kita.
Wie lässt sich das Konzept der spielzeugfreien Zeit nachhaltig im Kita-Alltag etablieren?
Heike Westermann: Nachhaltigkeit ergibt sich oft dadurch, dass Kinder und Teams nach dem Projekt gar nicht mehr in den ursprünglichen Zustand zurückkehren möchten: Rituale wie ein reflektierender Kinderkreis, ein von ihnen allein moderierter Spiel- oder Morgenkreis oder zahlreiche bedeutungsoffene Materialien und Werkzeugen werden gerne beibehalten. Die Kinder holen danach oft deutlich weniger Spielzeug hervor und wählen es gründlich aus. Auch Fachkräfte legen nicht einfach wieder ihre zurückhaltende Rolle ab – im besten Fall trauen sie den Kindern weiterhin viel mehr zu als vor dem Projekt. Viele Kitas führen die spielzeugfreie oder -arme Zeit als festen Bestandteil im Jahres- oder Zweijahres-Rhythmus dauerhaft ein. Dies wird dann konzeptionell festgehalten und zu einem verlässlichen Qualitätsmerkmal der Einrichtung.
Sie arbeiten auch als Kita-Fachberaterin. Inwiefern fördert das Projekt die kindliche Sprachentwicklung?
Heike Westermann: Während der spielzeugfreien Zeit müssen die Kinder viel kommunizieren. Denn wenn sie eine Spiel- oder Bau-Idee haben, müssen sie diese zum einen richtig interessant machen für die anderen. Zum anderen müssen sie dann auch die gemeinsame Umsetzung ausdiskutieren. Diese Abstimmung der Kinder untereinander ist mit vorgefertigten Spielmaterialien nicht unbedingt nötig.
Können Sie dafür ein Beispiel geben?
Heike Westermann: Mit Spielzeug wie Duplo können die Kinder ohne große Abstimmung ein Haus bauen – schließlich wissen alle, wie die Steine aufeinandergesetzt werden. Doch wie können sie gemeinsam ein Haus aus Zeitungen bauen und welche Materialien benötigen sie dafür? Indem die Kinder gemeinsam überlegen, aushandeln und verwerfen, stärken sie ihre Kommunikationsfähigkeit und erweitern ihren Wortschatz. Gleiches gilt für ein anderes Beispiel: Wenn ein Kind möchte, dass ein Stock im Garten ein Stoppschild für andere sein soll, muss es das überzeugend kommunizieren – sonst würde niemand das Signal als solches erkennen. So werden die Kinder schließlich auch darin gestärkt, ihre Gefühle gegenüber anderen verbal oder nonverbal auszudrücken.
Sie bringen die Idee der spielzeugfreien Zeit mit Suchtprävention in Verbindung – können Sie das genauer erläutern?
Heike Westermann: Der „Spielzeugfreie Kindergarten“ wurde Anfang der 90er-Jahre im Rahmen eines Suchtarbeitskreises entwickelt, um Kinder für den Umgang mit den Herausforderungen des Lebens zu stärken. Vor allem sollte das Projekt sie präventiv darin unterstützen, bei schwierigen Gefühlen, Misserfolgen oder auch Langeweile nicht sofort auf Ablenkungen oder Ersatzbefriedigungen zurückzugreifen.
Inwiefern wirkt sich das auch auf die Persönlichkeitsbildung aus?
Heike Westermann: Während der spielzeugfreien Zeit haben die Kinder ausreichend Raum und Zeit, sich ins Spiel zu vertiefen und dabei vielfältige Erfahrungen zu machen sowie Kreativität und Fantasie zu entwickeln. Im ungestörten Spiel mit bedeutungsoffenen Materialien nehmen sie eigene Gefühle und Bedürfnisse wahr, sie lernen sich und ihre Gefühle kennen und treffen viele, eigene Entscheidungen. Dabei übernehmen sie Verantwortung für sich selbst und die Gruppe, da die Erwachsenen weniger steuern.
Beobachten Sie auch langfristige Veränderungen im Spielverhalten der Kinder?
Heike Westermann: Ja. Während der spielzeugfreien Zeit erleben alle Beteiligten, dass Kinder gar nicht viel vorgefertigtes Spielzeug benötigen, um ihre Ideen zu verwirklichen. Diese Erfahrung ist eindrücklich und führt oftmals zu Veränderungen zum Beispiel in der Raumgestaltung, auch nach dem Motto: Weniger ist mehr. Oft überträgt sich das Projekt auch ins familiäre Umfeld: Die Kinder fangen auch zuhause an, Spielzeug auszusortieren und Materialien wie Verpackungen, Papier, Knöpfe oder Hölzer ins Kinderzimmer zu holen. Sie machen vermehrt Rollenspiele und zeigen deutlich mehr Kreativität und Phantasie.
Vielen Dank für das interessante Gespräch!